Ob unter Nachbar*innen, auf der Arbeit oder im Geschäft – überall stellen wir uns die Frage, ob wir duzen oder siezen wollen. Gibt es vielleicht einen Kompromiss?
Eine Entschuldigung zu Beginn
Zu Beginn eine Entschuldigung: Seit vier Jahren duze ich euch. Das geht natürlich nicht: einfach duzen, ohne vorher zu fragen, ob das für alle okay ist. Die Schriftstellerin und Regisseurin Doris Dörrie erkundigt sich zu Beginn ihres Buches “Leben, Schreiben Atmen”, ob ihre Leser*innen lieber geduzt oder gesiezt werden möchten. Irgendwie seltsam, denn was soll sie mit der Antwort schon anfangen, nachdem das Buch ja längst gedruckt wurde? Irgendwie aber auch charmant. Ich jedenfalls habe mich über die höfliche Geste gefreut. Nach vier Jahren frage ich daher selbst mal nach: Seid ihr damit einverstanden, dass ich euch duze?
Du oder Sie – manchmal ein politisches Statement
Du oder Sie – das ist hier die Frage. Die meisten Linken beantworten sie mit “Du”. Das klingt lockerer, vertrauter, nach Gewerkschaft vielleicht oder nach Marx-Lesekreis, nach Punk-Kneipe oder Demonstration, auf jeden Fall nicht nach bürgerlicher Etikette. Die Aktivist*innen der 68er-Bewegung waren es, die an deutschsprachigen Universitäten das Du unter Studierenden etablierten. Unter Sozialdemokrat*innen und Sozialist*innen hat es nie eine andere Anrede gegeben. Für SPD-Mitglieder ist der amtierende Bundeskanzler deshalb nicht nur der Regierungschef, sondern ebenso der Genosse Olaf.
Konservative bleiben traditionell lieber beim Sie. Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 bot der konservative Bundeskanzler Helmut Kohl seinem ostdeutschen Parteifreund Lothar de Maizière trotzdem das Du an – und erhielt die Antwort: “Herr Bundeskanzler, ich habe nicht 40 Jahre DDR-Genossen-Du überstanden, um mich nun in der Bundesrepublik gleich wieder duzen zu lassen.“
“…sonst fühle ich mich so alt!”
Doch was spricht eigentlich gegen das Du? Manche empfinden es als übergriffig oder kommunikativ riskant. Wer siezt, ist auf der sicheren Seite, wahrt Distanz und Professionalität. “‘Du Arschloch’ sagt sich leichter als ‘Sie Arschloch’”, fand meine Großmutter. Energisch verteidigte sie das Sie gegen den Zeitgeist, der seit einigen Jahrzehnten stark zum Du tendiert – ob in der Werbung, unter Kolleg*innen oder in der Service-Branche. Das Sie, so sah es meine Großmutter, drückt Respekt aus. Und ganz Unrecht hatte sie damit nicht – jedenfalls war ich stolz wie Oskar, als ich mit 15 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben gesiezt wurde. Ich fühlte mich so erwachsen. Viele Jugendliche wollen sich aber gar nicht erwachsen fühlen. Zumindest wollen sie nicht so angeredet werden wie ihre Eltern. Und ihre Eltern? Denen ist das Du vielleicht auch lieber. Wenn ich die Eltern meiner Schulfreund*innen duzte, hörte ich oft: “Sag doch ‘Du’ – sonst fühle ich mich so alt!”
Ein Kompromiss aus Hamburg
Für alle, die sich nicht zwischen Du und Sie entscheiden können, ist das sogenannte “Hamburger Sie” ein guter Kompromiss: eine Mischung aus formeller und informeller Anrede. Man kombiniert Vornamen und Sie. So mache ich das in meinen Deutschkursen. Für viele Deutschlernende ist das Hamburger Sie allerdings sehr ungewohnt. Normalerweise duzen mich die Teilnehmer*innen meiner Kurse deshalb. Wenn es doch mal jemand richtig macht, bin ich fast ein bisschen beleidigt: Warum plötzlich so distanziert?
Du oder Sie – das bleibt wohl eine komplizierte Frage. Gut, dass man sie einfach stellen kann: “Wollen wir uns duzen oder siezen?”