Ein Selfie aus Frankfort

Seit Jahrhunderten wandern Deutsche nach Nordamerika aus. Ihre Motive sind so vielfältig wie die Migranten selbst.

Vor ein paar Wochen schickte ein Kollege ein Urlaubs-Selfie aus Frankfort. Nein, ich habe mich nicht verschrieben: aus Frankfort, nicht Frankfurt. Der Kollege hatte die Stadt auf einer Reise durch die USA passiert und sich über ihren Namen gewundert. Ich wollte googeln, wo er eigentlich war – und stellte fest: Es gibt acht US-amerikanische Städte namens Frankfort. Und ich verwechsele schon immer Frankfurt an der Oder und Frankfurt am Main…

Neue Welt, alte Identitäten

Die Faszination, die für Deutsche von Nordamerika ausgeht, war immer die Faszination des Neuen. „Amerika, du hast es besser / als unser Kontinent, der alte“, schwärmte schon Johann Wolfgang von Goethe in seinem Gedicht Den Vereinigten Staaten. Doch viele Deutsche, die ihr Glück in der Neuen Welt suchten, wollten ihre alte Identität keineswegs aufgeben. Das zeigt sich in den Namen vieler Städte. Außer Dresden, Stuttgart, Schaumburg und Bremen wäre da zum Beispiel Germantown, gegründet 1683 in Pennsylvania. Bis heute pflegt dort eine kleine Minderheit eine Varietät des Deutschen, die für Deutsche nicht leicht zu verstehen ist: Pennsylvanian Dutch.

Die Forty-Eighters

Die wichtigsten Motive der deutschen Migranten auszuwandern, waren zunächst Armut und religiöse Verfolgung. Im 19. Jahrhundert hofften außerdem viele auf jene politische Freiheit, für die sie bereits in ihrer Heimat gekämpft hatten – ohne Erfolg. 1848 hatten sie eine Revolution begonnen – geendet hatte sie jedoch nicht mit der ersehnten Republik, sondern mit der Kapitulation der Revolutionäre vor dem Militär. Manche arrangierten sich mit den neuen Machtverhältnissen, andere sahen ihre Zukunft in den USA: die Forty-Eighters. Unter der Parole „Ubi libertas, ibi patria“ („Wo die Freiheit ist, da ist das Vaterland“) ließen sie Deutschland hinter sich – nicht aber ihre politischen Ideale. Zahlreiche Forty-Eighters engagierten sich für die Wahl Abraham Lincolns und kämpften im amerikanischen Bürgerkrieg in der Armee der Nordstaaten.

 Flucht  vor der NS-Diktatur

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Migration in die USA per Gesetz erschwert. Die vom NS-Regime Verfolgten, die Europa verlassen wollten, hatten eine bürokratische Odyssee vor sich. Viele wurden ermordet, bevor sie die für ein Visum benötigten Papiere beisammen hatten. Unter denen, die trotz aller Schikanen einreisen und bleiben durften, waren wichtige Künstler und Intellektuelle wie die Schriftstellerfamilie Mann. Der Kampf gegen das NS-Regime ging für viele im Exil weiter: Thomas Mann zum Beispiel hielt Reden im BBC, sein Sohn Klaus trat in die US-Armee ein. Das Heimweh, das deutsche Geflüchtete im Exil quälte, beschreiben am vielleicht eindrücklichsten die Gedichte Mascha Kalékos – etwa Der kleine Unterschied:

Es sprach zum Mister Goodwill
ein deutscher Emigrant:
„Gewiss, es bleibt dasselbe,
sag ich nun land statt Land,
sag ich für Heimat homeland
und poem für Gedicht.
Gewiss, ich bin sehr happy:
Doch glücklich bin ich nicht.“

Jägerschnitzel in Texas

Sind andere deutsche Einwanderer in den USA glücklich geworden? Zumindest sind seit dem 19. Jahrhundert Millionen gekommen, geblieben und Amerikaner geworden. Lange hatten sie eigene Zeitungen, pflegten ihre Muttersprache und ihr kulturelles Erbe. Davon ist nicht viel geblieben. Zu groß war der Assimilationsdruck nach zwei Weltkriegen, in denen die USA gegen ein gigantomanisches Deutschland gekämpft hatten. In Fredricksburg (Texas) soll man im Restaurant Der Lindenbaum aber bis heute sehr gutes Jägerschnitzel bekommen.

 

 

 

“Fernweh” und Wanderlust

Über zwei deutsche Wörter, die sich schwer übersetzen lassen. Beide sind beliebte Tattoo-Motive. Und beide haben mit dem Reisen zu tun.

„Fernweh“? Ja, doch, auf dem Arm der indischen Germanistik-Studentin, die in meinem Deutschkurs hospitierte, stand wirklich „Fernweh“. Über dem Wort flogen zwei Möwen. Irgendwie passte das Tattoo ganz gut zur Situation: Wir alle wären lieber am Meer gewesen oder auch in den Bergen, egal, Hauptsache weit weg, irgendwo, wo uns Deklinationen egal sein können.

„Fernweh“ – was ist das eigentlich?

„Fernweh“ – ein Wort, das kaum zu übersetzen ist und vielleicht gerade deshalb nicht nur in Deutschland bekannt ist. Es beschreibt die Sehnsucht nach… – ja, wonach eigentlich? Nach der Ferne, schon klar, aber präzise lokalisieren lässt sich die Ferne nicht, vor allem nicht die, von der wir manchmal träumen, wenn uns unser Leben am Schreibtisch irgendwie trist erscheint. Ferne – das Wort klingt nach Freiheit und Abenteuer. Man könnte auch sagen: Es klingt nach Fototapeten-Motiven, nach Strand und Palmen und Sonnenuntergang oder auch nach New York, Los Angeles, San Francisco. Auf jeden Fall klingt es nicht nach Alltag, jedenfalls nicht nach unserem.

Hilft Tourismus gegen das Fernweh?

Wer Fernweh hat, geht auf Reisen. Zumindest, wenn er außer Fernweh Urlaub und Geld hat. Von beidem braucht man heute weniger als in früheren Jahrhunderten, um zu verreisen. Längst ist der Tourismus ein Massenphänomen. Dass soziale Unterschiede deshalb verschwinden, ist natürlich eine Illusion. Nirgends sind sie präsenter als im Tourismus: „Gebildete“ deutsche Reisende wollen nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun haben mit den „Sauftouristen“, also ihren Landsleuten, die im Urlaub vor allem preiswert trinken und feiern möchten. Schon der humoristische Autor Robert Gernhardt machte sich in seinem Gedicht Deutscher im Ausland über den Klassismus unter Tourist*innen lustig:

Ach nein, ich bin keiner von denen, die kreischend
das breite Gesäß in den Korbsessel donnern,
mit lautem Organ „Bringse birra“ verlangen
und dann damit prahlen, wie hart doch die Mark sei.

Ach ja, ich bin einer von jenen, die leidend
verkniffenen Arschs am Prosecco-Kelch nippen,
stets in der Furcht, es könnt jemand denken:
Der da! Gehört nicht auch der da zu denen?

Reproduzieren wir in der Ferne am Ende doch nur das, was schon zu Hause ätzend ist?

„Wanderlust“ – am stärksten in der „Waldeinsamkeit“

Noch beliebter als „Fernweh“ ist als Tattoo-Motiv das deutsche Wort „Wanderlust“. Wandern, das heißt nicht einfach, eine längere Strecke zu Fuß zu gehen. Wandern, das ist auch etwas ganz anderes als Spazierengehen. Wandern, das ist authentische Naturerfahrung – zumindest der Idee nach. Die Faszination des Wanderns besteht seit dem 19. Jahrhundert darin, Abstand zur modernen Zivilisation zu gewinnen. Je weiter die Industrialisierung in Deutschland voranschritt, desto attraktiver wurde die „Waldeinsamkeit“ – die übrigens bis heute in einem gewissen Konflikt zur Popularität des Wanderns steht. Wenn in Nordrhein-Westfalen die Sommerferien beginnen und die Einwohner des größten deutschen Bundeslandes im Harz, im Schwarzwald und in den Alpen ihre „Wanderlust“ ausleben, ist dort von „Waldeinsamkeit“ nicht mehr viel zu spüren.

Ein Mittel gegen Fernweh

Das ändert nichts am Kult ums Wandern, zu dem auch die Kunst beigetragen hat, vor allem die Kunst der Romantik. Auf den Gemälden Caspar Davids Friedrichs (1774-1840) sehen wir Menschen in meditativer Betrachtung der Natur. Sie bewundern Berge, Wälder und Meere. Manches kennt man von Fotos oder sogar aus dem Urlaub – und doch sehen die Traumlandschaften auf den Bildern so ganz anders aus als die touristische Wirklichkeit. Wenn uns mal wieder das Fernweh überkommt, sollten wir vielleicht nicht auf Reisen gehen, sondern einfach in die Alte Nationalgalerie.

Deutschlands Nationalgemüse

Was wäre der Mai in Deutschland ohne den Spargel?

 

 

Der Mai ist da. Der Frühling kommt, die Sonne kommt, die Liebe kommt, und wegen der vielen Feiertage haben wir sogar Zeit für Frühling und Sonne und Liebe. Und natürlich für Spargel, das „weiße Gold“ – ja, traditionell muss es in Deutschland weißer Spargel sein.

 

Spargelkult

Anfang Mai beginnt die Spargelzeit und sie endet am 24. Juni, am Johannistag. „Stich den Spargel nie nach Johanni“, warnt eine alte Bauernregel – denn, so informiert eine andere Bauernregel: „Kirschen rot, Spargel tot.“ Die Spargelpflanzen brauchen Zeit, sich bis zum nächsten Jahr zu regenerieren, deshalb muss irgendwann Schluss mit der Ernte sein, und offiziell ist eben am 24. Juni Schluss.

Der Spargel ist so etwas wie das Nationalgemüse der Deutschen, und so treiben sie einen richtigen Kult um ihn. In vielen Regionen werden zum Beispiel Spargelköniginnen gewählt, um das Gemüse mit royalem Glamour zu repräsentieren. Die „Spargelstadt Beelitz“ im Südwesten Berlins präsentiert auf ihrer Homepage die Spargelköniginnen der letzten 10 Jahre: Fotos von jungen Frauen mit Blumen oder Spargelkörben, meistens in einem Spargelfeld – eine nicht sehr idyllische Kulisse, weil der Beelitzer Spargel unter Plastikfolien wächst. Unter den Fotos findet man Texte über die emotionale Beziehung der jungen Frauen zu Beelitz und seinem Spargel. Sehr divers ist die Beelitzer Monarchie übrigens nicht: Die meisten Spargelköniginnen sind blond, alle haben deutsche Namen.

 

Der Streit um das richtige Rezept

In Deutschland gibt es nicht nur Spargelköniginnen, sondern auch Spargelfeste, Spargeltouren und mehrere Spargelmuseen. Und Streit, wie man Spargel eigentlich richtig zubereitet. Denn richtig zubereiten muss man ihn, sonst schmeckt er nicht und das wäre schlimm, schließlich ist Spargel verdammt teuer. Was muss man also tun, damit der Spargel so richtig lecker wird?

Traditionalisten würden antworten: Man kocht ihn in Salzwasser mit ein bisschen Zucker, bis er schön weich ist, und serviert ihn mit gekochtem Schinken und jungen Kartoffeln. Darüber kommt zerlassene Butter oder Sauce Hollondaise. So war das früher, so ist es heute, so wird es immer sein – Ende der Diskussion!

Meine Mutter ist so eine Traditionalistin. Das Problem ist: Nicht sie kocht, sondern mein Vater. Seit ein paar Jahren provoziert er sie mit avantgardistischen Experimenten: Er brät den Spargel in der Pfanne oder backt ihn mit anderem Gemüse im Ofen. Meine Mutter kommentiert das nicht mehr, aber ich weiß, dass sie beim Essen über die Scheidung nachdenkt.

 

Mein Spargelsalat

Meinen Spargelsalat würde sie hassen – euch gebe ich trotzdem das Rezept. Ihr braucht:

1 Bund Spargel (ich nehme grünen, obwohl viele Deutsche das wahrscheinlich komplett verrückt finden)

Olivenöl

1 Bio-Zitrone

1 TL (Teelöffel, also kleiner Löffel) Senf

2 TL Honig

50 g Sonnenblumenkerne

2 EL (Esslöffel, also großer Löffel) Sojasauce

Die Spargelstangen unten schälen und in Stücke schneiden. Mit etwas Olivenöl und Zitronensaft beträufeln und mit dem Zitronenabrieb (der Schale der Zitrone) Salz und Pfeffer in den Ofen schieben. Bei 180 Grad 20-30 Minuten im Ofen rösten. In der Zwischenzeit die Grapefruit schälen und voll allen Häuten befreien. 50 ml Olivenöl, Zitronensaft, Senf, Honig und Salz und Pfeffer zu einer Vinaigrette verrühren. Erst nur ein bisschen Zitronensaft nehmen, damit es nicht zu sauer wird – lieber später noch welchen hinzufügen. Die Sonnenblumenkerne in einer Pfanne rösten, Sojasauce hinzufügen und kurz mitrösten. Abkühlen lassen. Den Spargel mit der Vinaigrette und den Grapefruit-Filets mischen und die gerösteten Sonnenblumenkerne darüberstreuen. Schmeckt warm oder kalt.

Die etwas bitteren Aromen von Spargel und Grapefruit, die Süße des Honigs, die frische Säure der Zitrone, die knusprigen, salzigen Sonnenblumenkerne – wunderbar! Das perfekte Essen für den Mai.

Beamtendeutsch

Über eine unbeliebte Varietät des Deutschen, die auch auch Muttersprachler*innen manchmal zur Verzweiflung bringt

Als Sprachlehrer komme ich manchmal in eine peinliche Situation: Lernende zeigen mir ein Schreiben vom Amt, damit ich ihnen sage, was drinsteht – und ich verstehe selbst kein Wort. Doch, doch, diese Schreiben sind auf Deutsch verfasst – allerdings auf Beamtendeutsch, und damit tue auch ich mich schwer. So schwer, dass ich mich über diesen verdammten Jargon ärgere – deshalb nenne ich ihn auch nicht respektvoll „Verwaltungssprache“, sondern „Beamtendeutsch“. Das Wort bezeichnet laut Duden eine „unlebendige, unanschauliche, oft langatmige und verschachtelt konstruierte trockene Ausdrucksweise“.

Lexikalische Kuriositäten

Präzise und rechtssicher soll die Sprache der Behörden sein – schön und gut, aber muss man eine Treppe deshalb „höhengewinnende Stufenanlage“ nennen? Kuriositäten wie die „höhengewinnende Stufenanlage“, das „raumübergreifende Großgrün“ (Baum) oder die „Raufutter verzehrende Großvieheinheit“ (Kuh) sind auch in der Sprache der Bürokratie nicht die Regel. Dennoch ist sie voller lexikalischer Besonderheiten – warum sonst hätte der Wörterbuchverlag Pons eine Liste mit den „wichtigsten Vokabeln fürs Amt“ zusammengestellt? https://de.pons.com/p/wissensecke/wortschatz-to-go/beamtendeutsch

Das Passiv – die Leideform

Doch nicht nur der Wortschatz macht die gefürchtete Post vom Amt zur sprachlichen Herausforderung. Auch die Grammatik hat es in sich. Da wäre zum Beispiel das Passiv – auch „Leideform“ genannt. Wem einmal ein behördliches Schreiben zugestellt wurde, in dem so viele Passivkonstruktionen verwendet wurden, dass keinerlei Textverständnis hergestellt werden konnte – ja, der weiß, was das Passiv mit Leid zu tun hat. Reduzieren könnt ihr das Leid, indem ihr den Text für euch umformuliert: Macht das Passiv zum Aktiv.

Gern genutzte, herausfordernde, nicht leicht zu verstehende Partizipien

Typisch Beamtendeutsch sind auch Partizipien, vor allem in attributiver Funktion. Das bedeutet, dass sie vor einem Substantiv stehen und wie ein Adjektiv dekliniert werden. Das Partizip I gebildet, indem man den Infinitiv eines Verbs um ein d ergänzt: schlafen – schlafend.  Es beschreibt einen aktuellen Vorgang: Ein Schreiben, das irritiert, ist ein irritierendes Schreiben. Oft ist sind Partizipialkonstruktionen kürzere Alternativen zu Relativsätzen. Leichter zu verstehen sind sie nicht unbedingt – vor allem nicht, wenn sie lange Ergänzungen mit sich führen. Ein Schreiben, das durch seine komplizierten Partizipialkonstruktionen irritiert, ist beispielsweise ein durch seine komplizierten Partizipialkonstruktionen irritierendes Schreiben.

Das Partizip II dagegen beschreibt Handlungen, die bereits abgeschlossen sind. An Antrag, der bereits bearbeitet wurde, ist ein bearbeiteter Antrag. Bearbeitete Anträge sind in deutschen Behörden allerdings selten. Dafür gibt es umso mehr Anträge, die noch darauf warten, bearbeitet zu werden. Hier kommt das Gerundiv, auch zu-Partizip, ins Spiel: Ein Antrag, der noch bearbeitet werden muss, ist ein noch zu bearbeitender Antrag.

Substantivierungen – wie aus schönen Prinzen hässliche Frösche werden

Beamtendeutsch hat noch mehr Verwirrendes in petto – zum Beispiel Substantive. Klar, Substantive benutzen wir auch, wenn wir ganz normal sprechen. Auf Beamtendeutsch ließe sich aber kontern: Beim normalen Sprechen erfolgt durch die Benutzung von Substantiven nicht die Eliminierung bedeutungstragender Verben. Viele Wörter in behördlichen Schreiben haben ein ähnliches Schicksal wie der Froschkönig aus dem Märchen der Gebrüder Grimm: So wie er ein schöner Prinz war, bevor eine böse Hexe ihn in einen hässlichen Frosch verwandelte, so waren sie schöne Verben, bevor ein böser Beamter sie in ein hässliches Substantiv verwandelte. Könnt ihr sie zurückverwandeln? Küssen hilft leider nicht…

Humor hilft

A propos Märchen: Eine der berühmtesten Parodien auf die leblose Sprache deutscher Behörden heißt Rotkäppchen auf Amtsdeutsch (https://www.zeit.de/1984/52/rotkaeppchen-auf-amtsdeutsch). „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“, lautet die Formel, mit der die Gebrüder Grimm ihre Märchen schließen. Der Schriftsteller Thaddäus Troll macht daraus: „Wenn die Beteiligten nicht durch Hinschied abgegangen und in Fortfall gekommen sind, sind dieselben derzeitig noch lebhaft.“

Immerhin: Behörden bieten ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern inzwischen Kommunikationsschulungen an. Illusionen sollte man sich deshalb nicht machen: In einem Handbuch mit dem Titel Bürgernahe Verwaltungssprache (https://www.bva.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Oeffentlichkeitsarbeit/Buergernahe_Verwaltungssprache_BBB.pdf?__blob=publicationFile&v=6), 2002 vom Bundesverwaltungsamt herausgegeben und online verfügbar, heißt es über die „[K]leinste gemeinsame Verständigungsbasis“ für die Kommunikation zwischen Behörden und Bürger*innen: „Sie reicht für die Verständigung nicht immer aus.“

Versuchen wir, es mit Humor zu nehmen – wie das geht, zeigt Thaddäus Troll.

Prost!

Trotz guter Vorsätze: Auch 2023 wird Alkohol ein Thema bleiben. Immerhin eines, über das man auf Deutsch sehr differenziert sprechen kann.


Es ist Januar: Gute Vorsätze für das neue Jahr sind gefasst und die ersten auch schon wieder gebrochen worden. Weil es hier um Sprache gehen soll, könnte ich euch nun erklären, wie man im Deutschen über die Zukunft spricht: Man kann das Hilfsverb werden benutzen. Oder auch nicht. „Ich werde im Januar keinen Alkohol trinken.“ Oder: „Ich trinke im Januar keinen Alkohol.“ Geht beides.

Ein Glas Wein auf den Dry January

Okay, blöder Beispielsatz. Vielleicht lieber: Ich werde heute Abend ein Glas Rotwein trinken. Vielleicht trinke ich dann noch ein zweites. Ein Glas mit Hilfsverb, eines ohne. Und weil aller guten Dinge drei sind, trinke ich dann noch ein drittes – auf den Dry January, den kürzesten Monat des Jahres! Nach dem dritten Glas kann ich nicht mehr zählen und glaube, es sei erst das zweite, also trinke ich noch ein Glas – auf meine Oma, die mir beibrachte: „Der größte Feind des Menschen wohl, / Das ist und bleibt der Alkohol. / Doch in der Bibel steht geschrieben: / ‚Du sollst auch deine Feinde lieben!‘“

Motive zum Alkoholkonsum beschreiben

Die Deutschen lieben den größten Feind des Menschen das ganze Jahr über. Friedrich von Bodenstedt dichtete: „Im Winter trink‘ ich und singe Lieder / Aus Freude, dass der Frühling nah ist. / Und kommt der Frühling, sing‘ ich wieder – / Aus Freude, dass er endlich da ist!“ Man könnte sagen: Der Dichter glüht im Winter schon mal vor. Das Verb „vorglühen“ stammt eigentlich aus der Technik: Wenn es kalt ist, müssen Dieselmotoren vor dem Start vorglühen, also heiß werden. Wenn ihr zum „Vorglühen“ eingeladen werdet, ist damit aber etwas anderes gemeint: eine Art alkoholisches Warmup vor einer langen Nacht. Bevor man ausgeht, trinkt man gemeinsam etwas, um in Stimmung zu kommen – oder auch, um später im Club Geld zu sparen.

Vor allem im Winter wird nicht nur aus Freude getrunken, denn nicht nur der Frühling ist da, sondern auch die Stromrechnung – kann man sie sich schöntrinken? Sich etwas schönzutrinken bedeutet, dass man so viel trinkt, bis man etwas eigentlich sehr Unschönes, dank Alkohol am Ende doch irgendwie schön findet. Funktioniert leider nicht oft. Auch der Versuch, Sorgen in Alkohol zu ertränken, bleibt meistens erfolglos – die Misere wird nur immer größer, genau wie die Leber. Trotzdem gibt es ein eigenes Wort für Trinken aus Ärger, Enttäuschung, Depression: Frustsaufen.

Trinken und betrunken sein

Dass in deutschsprachigen Ländern viel getrunken wird – gern auch zu viel –, zeigt sich an den vielen verschiedenen umgangssprachlichen Ausdrücken für diese Tätigkeit: sich einen auf die Lampe gießen, zu tief ins Glas schauen, einen über den Durst trinken oder sich die Kante geben. Wer nur ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hat, ist angeheitert oder beschwipst, wer schon unterm Tisch liegt, ist hackedicht, sternhagelvoll, sturzbesoffen oder – etwas eleganter ausgedrückt – volltrunken. Eine freundliche Formulierung für einen (leichten bis mittleren) Rausch: einen im Tee haben. Wahrscheinlich kommt diese Redewendung von der norddeutschen Tradition, Tee mit Rum zu trinken.

Moment, was schreibe ich hier eigentlich für Sachen? Ich bin doch völlig nüchtern und wollte einen ganz seriösen Beitrag darüber verfassen, wie man wie man im Deutschen über die Zukunft spricht. Na ja, mit oder ohne „werden“, mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen. Prost!

 

Morgen, Kinder, wird’s was geben

Zwei Weihnachtstexte für den Deutschunterricht: ein Original und seine Parodie. Kann man beide mögen?

 

 

Vorfreude in kindlicher Weihnachtswunderwelt

„Morgen, Kinder, wird’s was geben“ – als kleiner Junge habe ich dieses Weihnachtslied geliebt. Heute höre ich es mit Deutschkursen ab B2-Niveau und werde jedes Mal sentimental. Ja, die Vorfreude auf den Heiligen Abend war das Schönste in der kindlichen Weihnachtswunderwelt. Spätestens am ersten Dezember sang ich: „Einmal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag!“ – obwohl wir in Wirklichkeit noch 23 Mal wach würden, bevor Weihnachten war.

Eigentlich will ich im Deutschunterricht nicht sentimental werden. Habe ich das Lied mit meinen Kursen zu Ende gehört, doziere ich deshalb sehr akademisch über seinen kulturhistorischen Hintergrund.

Ein Lied für Wohlhabende

Mit „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ feiert das Bürgertum des 19. Jahrhunderts weniger die Geburt Jesu Christi als sich selbst. Die Weihnachtsfreuden, um die es geht, sind nicht religiöser, sondern materieller Natur. In dem Lied erinnern sich Kinder daran, was ihr letztes Weihnachtsfest besonders gemacht hat. Konkret heißt das: Sie erinnern sich an die Geschenke, die sie bekommen haben. Zwei Strophen lang machen sie Inventur. Es geht um Kleider und Puppenherde für die Mädchen und Jagdspielzeug für die Jungen – Dinge, mit denen wohlhabende Familien ihre Kinder auf ihre späteren sozialen Rollen vorbereiteten. Der Dank für die Geschenke gilt den Eltern: „Oh, gewiss, wer sich nicht ehrt, / ist der ganzen Lust nicht wert!“ Kein Christkind, keine Engel, dafür Eltern, die man ehren muss. Moral statt Fiktion.

 

„Weihnachtslied, chemisch gereinigt“

1927 schrieb der Schriftsteller Erich Kästner eine großartige Parodie auf das Lied: „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“. Die Grundidee des Originaltextes nimmt er ernst: Das Wichtigste an Weihnacht

en sind Waren. Die Kinder, die Kästners Parodie adressiert, gehören aber nicht zum Bürgertum. Sie sind von jedem Reichtum ausgeschlossen – und damit auch von dem, was Weihnachten im Kapitalismus ausmacht: „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben, / Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.“

Nun könnte man erwarten, dass es warmherzig weitergeht. Ist Weihnachten nicht das Fest der Liebe? Sollten wir vielleicht ein Benefizkonzert veranstalten, bei dem reiche Leute etwas für die Armen spenden und sich dabei sehr generös fühlen? Nicht im chemisch gereinigten Weihnachtslied! Der Ton ist so zynisch wie die Wirklichkeit: Wie in „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ werden exklusive materielle Freuden beschrieben – immer aber mit dem Hinweis, dass die Kinder nicht an ihnen teilhaben werden. Ihnen wird erklärt, dass das nicht so schlimm sei: dass sie zufrieden sein sollten, am Leben zu sein, dass Reiche Armut gern hätten, dass sie vernünftig sein und teure Dinge gar nicht verlangen sollten, dass sie Geduld haben und aus ihrer Misere für’s Leben lernen sollten – ohne, dass klar würde, was genau sie da lernen sollen. Eine ironische Aufforderung zur Passivität.

Trotz allem: Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!

Mit meinen Deutschkursen ab B2-Niveau lese ich immer beides: „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ und „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“. Kann man beides mögen – das sentimentale Kinderlied und seine sozialkritische Parodie? Eigentlich nicht. Trotzdem pfeife ich in der Adventszeit oft „Morgen, Kinder, wird’s was geben“. Manchmal denke ich dann an die kindliche Vorfreude auf das große Fest – und manchmal daran, dass diese Vorfreude ein Privileg ist, das keines sein dürfte.

Ziemlich anstrengend, dieser Widerspruch. Deshalb freue ich mich nach den Unterrichtsstunden zu den beiden Texten auf meine A1-Kurse. Dort lernen wir: „Frohe Weihachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!“ Das wünschen wir vom All-on-Board-Team auch euch.

Wie süß, ein Diminutiv

Wenn ich von einer Reise zurückkehre, habe ich immer das Gefühl: Berlin mag mich nicht mehr. Alle wirken irgendwie kalt und unhöflich. Nach ein paar Stunden fällt mir ein, dass die Leute in Berlin ja immer so sind, dann ist wieder alles gut.

Ende August war ich ein paar Tage in Wien. Auch Wien gilt als nicht besonders höflich, und die Wiener, so sagt man, meckern genauso gern wie die Berliner. Der „Wiener Schmäh“ klingt aber viel weicher als der Berliner Dialekt. Wienerisch, das ist Deutsch mit Schokoladensauce. Ein Grund dafür sind die vielen Diminutive.

Der Diminutiv in verschiedenen Dialekten

Der Diminutiv kennzeichnet Personen oder Dinge als klein. In Wien ist eigentlich alles klein. Jedenfalls könnte man das denken, wenn man im Restaurant sitzt und den Wienern zuhört. Als Vorspeise bestellen sie ein „Supperl“, zum Schnitzel gibt’s ein „Glaserl“ Wein oder Bier und zum Nachtisch genießt man ein „Stückerl“ Torte. Die Portionen in Wien sind übrigens riesig! Der Diminutiv drückt hier eher Sympathie aus. Alles mit -erl am Ende findet der Sprecher oder die Sprecherin nett.

So vielfältig die Diminutive der deutschen Sprache sind, alle werden durch ein Suffix definiert. In der Schweiz ist -li beliebt, in Schwaben -le, in Norddeutschland -ken – allerdings ist man in Norddeutschland eher sparsam mit dem Diminutiv.

Immer im Neutrum

Im Standarddeutschen lauten die Diminutiv-Endungen -chen oder (seltener) -lein. Das Praktische am Diminutiv ist, dass er immer im Neutrum steht – egal, welches Genus das Nomen sonst hat. Wenn man mal wieder nicht den richtigen Artikel eines Nomens weiß, kann also der Diminutiv helfen: Ist es nun der, die oder das Tisch? Egal, wenn der Tisch nicht zu groß ist, macht man einfach ein „Tischchen“ draus. Ist es der, die oder das Hund? Egal, wenn es nicht gerade ein Bernhardiner ist, nennen wir ihn Hündchen.

Vorsicht, Vokalwechsel!

Beim Hündchen müssen wir nur aufpassen, dass wir an den Vokalwechsel denken, sonst macht uns das Tier doch noch Ärger: A, o und u werden zu ä, ö und ü. Der Schatz wird zum Schätzchen (und damit noch ein bisschen süßer!), das Boot zum Bötchen (Vorsicht, aus zwei o‘s wird nur ein ö!) und der Hund wird eben zum Hündchen – das würde ich mir von dem Pitbull unseres Nachbarn wirklich manchmal wünschen…

Warum das Mädchen im Neutrum steht

Manche Wörter stehen formal immer im Diminutiv – die sogenannten „verselbstständigten“ Diminutive wie zum Beispiel Brötchen. Ein Brötchen nicht einfach ein kleines Brot, sondern eben ein Brötchen (je nach Region auch als Schrippe, Wecke oder Semmel bekannt). Hier hat sich ein Diminutiv als eigenes Wort etabliert.

Ein verselbstständigter Diminutiv, an den sich viele Lernende nur schwer gewöhnen können, ist das Mädchen. Warum bitte steht ausgerechnet das Mädchen im Neutrum und nicht im Femininum? Die Antwort liegt in der Geschichte des Wortes: „Mädchen“ leitet sich ab von „Maid“. Maid hat man früher junge Frauen genannt. Das Mädchen ist also eine kleine junge Frau, eben noch ein Kind. Während die „Maid“ aus der Sprache verschwunden ist, sorgt das Mädchen bis heute für Konfusion. Aber wir wollen nicht ungerecht sein: Nicht das Mädchen ist schuld an seinem Genus, sondern der Diminutiv.

Gender Trouble

 

 

Liebe Leser,

Liebe Leserinnen,

Liebe Leserinnen und Leser,

Liebe Leser/innen,

Liebe LeserInnen

Liebe Leser*innen,

Liebe Leser_innen,

Liebe Leser:innen,

Liebe Lesende!

Sicher habt ihr an den verschiedenen Anreden schon erkannt, worum es geht: Ums Gendern. Oder eben ums Nicht-Gendern, wie in der ersten Option: Liebe Leser. Natürlich sind mit den „lieben Lesern“ auch die Leserinnen gemeint. Oder ist das gar nicht so natürlich? Als die Schweiz 1971 das Wahlrecht für Frauen einführte, wurde auch der Verfassungstext geändert, um klarzustellen, dass es darin nicht nur um Schweizer Männer geht. Im Grundgesetz, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, ist eine „Bundeskanzlerin“ auch nach 16 Jahren Angela Merkel nicht vorgesehen – obwohl die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Artikel 3 garantiert wird. Ist diese Garantie genug? Muss man Gesetzestexte wirklich gendern – und damit noch komplizierter machen?

Eine linguistische Frage – und eine politische

Eine kontroverse Frage. Die ZEIT bekam jedenfalls wütende Leserbriefen, nachdem sie 2021 einen Appell mit dem Titel „Gendert das Grundgesetz“ veröffentlicht hatte. 2020 wurde ein Gesetzesentwurf im generischen Femininum verfasst – und musste umgeschrieben werden. Die Kritik: Wenn nur die weibliche Form benutzt wird, gilt das Gesetz nur für Frauen. Nun steht im Text das generische Maskulinum und gilt für alle – auch für die, die nicht explizit genannt werden, also alle, die keine Männer sind.

Gendern oder nicht? Das ist keine rein linguistische Frage, sondern auch eine politische. Viele Konservative hassen das Gendersternchen („Leser*innen“), das geschlechtliche Identitäten zwischen oder jenseits von Mann und Frau repräsentiert. CDU-Vorsitzender Friedrich Merz findet: In öffentlich finanzierten Medien hat es nichts zu suchen. Journalist*innen, pardon: Journalisten (oder, in Gottes Namen, Journalistinnen und Journalisten) sollten sich an die „allgemein anerkannten Regeln in der Nutzung der deutschen Sprache halten“, erklärte er vor ein paar Wochen auf dem CDU-Parteitag in Hannover.

Sternchen und Partizipien – ein Skandal?

A propos Hannover: Was die „allgemein anerkannten Regeln in der Nutzung der deutschen Sprache“ sieht die dortige Stadtverwaltung anders als Friedrich Merz. 2019 hat sie ein Papier entwickelt, das ihren Mitarbeitenden eine genderneutrale Sprache sie empfiehlt, wie zum Beispiel Partizipialformen sie ermöglichen: „Mitarbeitende“ statt „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“. Auch das Gendersternchen soll für mehr Gerechtigkeit sorgen.

Ein Skandal, findet der Verein Deutsche Sprache. „Schluss mit dem Gender-Unfug“, forderte er in einer Petition, die viele prominente Unterstützer (und nicht ganz so viele prominente Unterstützerinnen) fand. Wahrscheinlich haben viele von ihnen ein ästhetisches Problem mit dem Gendern – jedenfalls ist in der Petition von „lächerlichen Sprachgebilden“ die Rede, die Frauen am Ende doch nicht helfen würden.

Gender – im Deutschen immer präsent

Ob die weibliche Endung Frauen hilft oder nicht – das generische Maskulinum führt zu ihrer mentalen Unterrepräsentation. Lesen wir „Ärzte“, stellen wir uns Männer in weißen Kitteln vor. Bei „Ärztinnen und Ärzten“ entsteht ein Bild, in dem auch Frauen präsent sind. Der Schriftsteller Navid Kermani bedauert in einem ZEIT-Artikel, dass er auf Deutsch nicht über Personen schreiben kann, ohne indirekt ihr Geschlecht zum Thema zu machen. Im Plural kann das Partizip für Gender-Neutralität sorgen: „Liebe Lesende“ lässt offen, ob ihr männlich, weiblich oder divers seid. Spreche ich dich jedoch nicht als Teil einer Gruppe an, sondern ganz persönlich, dann, liebe*r Leser*in (oder sollte ich schreiben: liebe Leserin, lieber Leser?), dann nützt auch das Partizip nichts.

Wenn es ums Gendern geht, ist also nicht immer klar, was die „allgemein anerkannten Regeln in der Nutzung der deutschen Sprache“ sind. Wie er oder sie präzise, unkompliziert und gerecht spricht, entscheidet am Ende jeder, jede, jede*r (…) individuell.

Sommerwetter– manchmal April, manchmal Sahara

Irgendwie fühlt sich der Berliner Sommer dieses Jahr so an wie der April. Im Homeoffice sitze ich in Badehose, wenn ich dann ins Schwimmbad gehe, beginnt es zu regnen. Im Freiluftkino habe ich dieses Jahr schon kalten Aperol getrunken, an anderen Tagen wäre mir heißer Glühwein lieber gewesen. Seit Wochen haben wir ein richtiges Aprilwetter – ein wechselhaftes, unbeständiges Wetter.

Manchmal fühlt sich der Berliner Sommer leider eher wie die Sahara an als wie der April – wenn sich während einer Hitzewelle die Straßen aufheizen und einfach nicht abkühlen wollen. Die Sonne brennt, man schwitzt und hofft auf ein bisschen Wind, wenigstens eine leichte Brise. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man. Aber sie stirbt. Die Hoffnung auf Wind jedenfalls überlebt nicht lange, wenn sich in den Häuserschluchten Berlins die Hitze staut. Wer eine Abkühlung braucht, muss ins Freibad gehen – oder an einen der vielen Badeseen.

„Pack die Badehose ein“

Da wäre zum Beispiel der Wannsee im Südwesten Berlins. Badespaß am Wannsee – darum geht es in dem berühmten Berliner Schlager „Pack die Badehose ein“ aus dem Jahr 1951, gesungen von der damals siebenjährigen Tochter des Komponisten. Als echte „Berliner Göre“ – also als ein typisches Kind der Stadt – wurde sie zu einem der ersten Kinderstars der Bundesrepublik Deutschland.

Populär wurde das Lied auch in Ostberlin – allerdings in einer etwas anderen Version, denn der Wannsee lag im Westen. Im Original heißt es: „Pack die Badehose ein, / nimm dein kleines Schwesterlein / und dann nischt wie raus nach Wannsee.“ In der DDR wurde daraus: „und dann nischt wie raus ins Strandbad.“

Das war die nette Version. Es gab auch eine bitterböse Parodie. Sie entstand, nachdem ein kleines Mädchen im Strandbad Wannsee angeschossen worden war, weil amerikanische Soldaten den nahen Grunewald für militärische Übungen nutzten: „Schließ die Badehose ein, / lass das Baden lieber sein, / denn der Ami schießt am Wannsee.“

Die Jahreszeit des Schlagers

Bis heute ist der Sommer eine Jahreszeit für Schlager. Die klassische Poesie hat er wenig inspiriert. Viele deutsche Dichterinnen und Dichter haben zarte Verse über den Frühling und den Herbst geschrieben. Den Sommer haben sie den Schlagersängern überlassen.

Im März fällt mir manchmal Eduard Mörickes „Er ist’s“ ein. Im September denke ich an Rainer Maria Rilkes „Herbsttag“. Im Juli habe ich dieses Jahr das Lied „Layla“ von DJ Robin & Schürze kennengelernt. Es beschreibt die erotischen Qualitäten einer Bordellbetreiberin. Dass es auf manchen Stadtfesten nicht gespielt werden sollte, löste eine sehr emotionale Debatte über Sexismus und Kunstfreiheit aus. Bei manchen Debattenbeiträgen fragte ich mich, ob die Debattierenden die Hitze nicht vertragen hatten…

Ich hoffe, dass euch weder Aprilwetter noch Hitze zusetzen. Vielleicht motiviert euch der Berliner Sommer ja sogar, euren Wortschatz rund ums Wetter zu erweitern, um über die „Bullenhitze“ schimpfen oder eure Freude über ein „laues Lüftchen“ ausdrücken zu können. Und damit Schluss für heute – ich brauche dringend eine Abkühlung. Hoffentlich fängt es im Schwimmbad nicht wieder an zu regnen…

 

Queer und selbstbewusst – nicht nur im Pride Month

Es ist Juni , wir sind in Berlin – da bräuchten wir einen Blog-Post zum Pride Month, fanden meine Kolleginnen. Pride Month? Musste ich erst mal googeln. Ich fand heraus: Der Juni ist der Monat queeren Selbstbewusstseins. Oh, da bin ich spät dran mit meinem Blogpost! Dabei finde ich queeres Selbstbewusstsein natürlich super. Nur feiere ich es auf der CSD-Parade, und die ist in Berlin erst im Juli…

Die Geschichte von Pride Month und Christopher Street Day

Irgendwie ist der Begriff „Pride Month“ bisher nicht so richtig in Deutschland angekommen. Er erinnert an den Mut – die Courage – der Gäste einer queeren Bar in New York. Am 28. Juni 1969 protestierten sie gegen eine Polizei-Razzia und begannen damit einen leidenschaftlichen Kampf für Gleichberechtigung – laut, wütend und stolz. Stolz darauf, so zu sein, wie sie waren.

Auch in Deutschland erinnert die LGBTIQ*-Community an die Ereignisse in jener Bar, dem Stonewall’s Inn in der Christopher Street. Über 60 Paraden gibt es diesen Sommer zum Christopher Street Day. Nur mit dem Monat nehmen es die Deutschen nicht so genau, obwohl sie doch sonst für ihre Pünktlichkeit bekannt sind. In Berlin findet der CSD am 23. Juli statt, in vielen Städten noch später. In Herleshausen lässt man sich bis November Zeit.

Sprache und Emanzipation

Ob wir es im Pride Month, im Juli oder erst im November feiern – zu queerem Selbstbewusstsein gehört eine selbstbewusste Sprache. In den 1970er Jahren nannten sich manche schwule Aktivistenpervers“. Das war nicht einfach Ironie, sondern Arbeit an der Sprache. Aus einem Stigma sollte ein provokantes Statement gegen die konservative Sexualmoral der Mehrheitsgesellschaft werden. Trotzdem blieb das Wort negativ konnotiert.

Anders das Wort „schwul“, das männliche Homosexualität beschreibt. Es kommt von „schwül“. Schwül, also warm und feucht, war es früher in den verbotenen Bars, in denen Schwule sich heimlich trafen. Vielleicht wurden mit „schwül“ auch die Beziehungen der „warmen Brüder“, also homosexueller Männer, zu ihren Geliebten metaphorisch charakterisiert, weil sie das Gegenteil von kalt und gleichgültig waren.

Lange wurde „schwul“ nur in der Umgangssprache benutzt, oft abwertend. Heute hat es auch in der Standardsprache seinen Platz. Und in der Jugendsprache – dort aber als Attribut für Peinliches oder Unattraktives. Ist das nun ein kreatives Spiel mit Bedeutungen oder einfach Homophobie?

Vielfalt, die inspiriert

Eine Alternative zu „schwul“ ist inzwischen der Anglizismus „gay“. Sein Vorteil: Er ist inklusiver, weil er auch lesbische Liebe beschreibt. Überhaupt: Die LGBTIQ*-Szene ist so vielfältig, dass es manchmal eine Herausforderung ist, die richtigen Worte zu finden. Es geht schließlich nicht nur um sexuelle Orientierungen wie lesbisch, schwul und bisexuell, sondern auch um Geschlechtsidentitäten wie trans, inter oder nonbinär.

Wie inspirierend diese Vielfalt sein kann, zeigt der Film „Desire will set you free“ (2015) von Yoni Leyser. Er stilisiert Berlin zu einer Art queerem El Dorado  – und macht klar: Unter dem Regenbogen, dem farbenfrohen Symbol der LGBTIQ*-Community, ist Platz für viele. Nicht nur im Pride Month.

 

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