Das Prestige des Genitivs
Wegen der Verwendung des Dativs statt dem Genitiv – pardon: des Genitivs! – bekam man früher richtig Ärger. Meine Mutter erzählte mir mal eine Genitiv-Anekdote aus ihrer Schulzeit. „Entschuldigen Sie, ich habe mich wegen dem Regen verspätet“, erklärte sie ihrem Deutschlehrer, als sie es an einem nassen Morgen nicht pünktlich in den Unterricht geschafft hatte. „Warum hast du dich verspätet?“, fragte der Lehrer. „Wegen dem Regen“, wiederholte meine Mutter. „Warum hast du dich verspätet?“, fragte er erneut. „Na, wegen dem Regen!“ Immer noch hatte der Lehrer ein Problem mit der Antwort – kein akustisches, auch kein inhaltliches, sondern ein grammatisches. „Wegen des Regens hast du dich verspätet. Setz dich!“
Keine Sorge, ich habe diese Geschichte nicht aus Nostalgie wiedergegeben – obwohl viele Deutschlehrkräfte durchaus ein nostalgisches Verhältnis zum Genitiv haben. Seine korrekte Verwendung – und das wollte ich mit der kleinen Anekdote illustrieren – ist jedenfalls ein kurioses Distinktionsmerkmal. Der Genitiv ist wie Manschettenknöpfe: Ein bisschen aus der Zeit gefallen, aber immer noch ein Prestigestück. Manschettenknöpfe sind eben eleganter als normale Knöpfe und der Genitiv ist eleganter als der Dativ.
Sprachwandel
Doch mit der Sprache ist es wie mit der Mode: Sie ist ständig im Wandel. Selbst bei Hochzeitsgesellschaften sieht man immer seltener Manschettenknöpfe, selbst in der Zeitung weicht der Genitiv immer öfter dem Dativ. Ein weiteres Anzeichen für den Untergang vom Abendland, nein, des Abendlandes?
Auf jeden Fall ein Grund zur Sorge – findet zumindest der Sprachkritiker Bastian Sick. Seine Texte und Performances über die deutsche Sprache sind Kult. Sein beliebtestes Buch heißt „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“.
Der Titel macht sich über eine umgangssprachliche Alternative zum Genitiv lustig, den sogenannten possessiven Dativ, der es nie ins Schriftdeutsch geschafft hat, aber in vielen Dialekten vorkommt. Die Bedrohung des Genitivs durch den Dativ ließe sich übrigens auch mit Hilfe einer Präposition darstellen: „Der Dativ ist der Tod vom Genitiv“. Für Sick aber steht fest: Eigentlich muss es der Genitiv sein!
Das sehen nicht alle so. Der Berliner Sprachwissenschaftler André Meininger kritisiert Sick in seinem Buch „Sick of Sick?“ als „Obersten Staatsanwalt der deutschen Sprache“. Als Vertreter der sogenannten deskriptiven Linguistik hält Meininger nichts von eisernen Regeln, sondern plädiert für Offenheit gegenüber sprachlicher Vielfalt und Dynamik. Der Genitiv hält übrigens mehr sprachliche Vielfalt und Dynamik aus, als manche Sprachschützer*innen glauben. In seiner possessiven Funktion hält er sich auch in der Umgangssprache: Sicks Sorge um den Genitiv ist unberechtigt – nicht: Die Sorge von Sick um den ist unberechtigt.
Wie ihr wollt
Auch der Duden, die Standard-Referenz in Fragen zur deutschen Sprache, verfolgt einen eher deskriptiven Ansatz. Er zieht nicht gegen sprachliche Veränderungen zu Felde wie mache Sprachkritiker*innen (manche*r unter ihnen würde an dieser Stelle übrigens „Gender-Wahn!“ rufen). Obwohl er Regeln festhält, ist der Duden keine „Hausordnung der deutschen Sprache“, die vorschreibt, was erlaubt und was verboten ist. Vielmehr bildet er die Entwicklung der Sprache ab.
Deshalb kann inzwischen laut Duden nach der Präposition „wegen“ sowohl der Genitiv als auch der Dativ stehen. Heute darf man ganz offiziell auch wegen dem Regen zu spät kommen – trotz dem nostalgischen Verhältnis, das viele Deutschlehrkräfte zum Genitiv haben. Oder müsste es „trotz des nostalgischen Verhältnisses“ heißen? Egal, dank dem Sprachwandel geht beides. Oder dank des Sprachwandels – wie ihr wollt.
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