Poesie oder Wortmonster?
Meine Bekannten sind gar nicht glücklich über das Ende des Sommers: Vorbei die Zeit der Picknicks, der Grillpartys, der Nachmittage am See – nur noch allgemeines Absterben. Aber hat nicht gerade die Melancholie des Herbstes ihren Zauber? Keine andere Jahreszeit hat deutschsprachige Dichterinnen und Dichter mehr inspiriert. Und kommt man nicht selbst in poetische Stimmung, wenn man im goldenen Oktober spazieren geht? Die dunkelvioletten Astern, die purpurroten Blätter, der zartblaue Himmel – ach!
Na gut, das waren jetzt eher Klischees als Poesie. Doch auch in den Klischees zeigt sich ein Charakteristikum der deutschen Sprache: Man kann mit ihr Neues kreieren, indem man verschiedene Wörter zu einem verbindet. Mark Twain hat sich in seinem Essay „Die schreckliche deutsche Sprache“ über die Wortmonster lustig gemacht, die dabei entstehen können: „Manche deutschen Wörter sind so lang, dass man sie nur aus der Ferne ganz sehen kann“, kommentiert er die deutsche Begeisterung für Komposita.
Fugenelemente: Deutsch lernen, um die Wortmonster zu erschlagen
Eigentlich haben Komposita eine sprachökonomische Funktion. „Purpurrote Ahornblätter“ geht schneller als „Blätter, die so rot wie Purpur sind“. Trotzdem fragte sich 1999 wohl manche Zeitungsleserin, ob in der Redaktion die Leerzeichentaste klemmte, als über die Verabschiedung des „Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetzes“ berichtet wurde. 2013 wurde das Gesetz abgeschafft. Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern bereitet es aber immer noch Freude.
Im Gegensatz zu anderen Komposita besteht das Wort „Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“ ausschließlich aus Substantiven, von denen manche mit, andere ohne Fugenelement verbunden wurden. Fugenelemente sind so etwas wie der Klebstoff zwischen zwei Wörtern. Im Wort „Fugenelement“ werden zum Beispiel die Wörter „Fuge“ und „Element“ mit einem kleinen -n- aneinandergeklebt. Im „Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“ finden wir als Fugenelement dreimal das kleine -s-, das man nach -ung und -ion einsetzt. Es gibt ziemlich viele Fugenelemente. Im bietet dazu sprachgeschichtliche Erklärungen an – trotzdem weiß man manchmal nicht, welches man gerade braucht. Die gute Nachricht ist: Meistens braucht man gar keins.
Wenn man etwa ein Verb und ein Substantiv zusammenfügt, wie in dem Wort Klebstoff. Hier wird einfach der Verbstamm (Kleb-) mit dem Substantiv (Stoff) verbunden.
Auch Adjektive verbindet man ohne Fugenelemente miteinander – wir erinnern uns an die dunkelvioletten Astern und den zartblauen Himmel. Auch wenn ein Substantiv und ein Adjektiv kombiniert werden, braucht es normalerweise kein Fugenelement – egal, ob die Blätter nun purpurrot, feuerrot, blutrot, scharlachrot oder weinrot sind.
Spaß mit Komposita
In „Ödipussi“ (1988), einem Spielfilm des großartigen Humoristen Loriot, streiten der Vertreter eines Textilhandels und eine Psychologin über eine geeignete Farbe für das Sofa eines depressiven Ehepaars. Während die Psychologin für „ein frisches Gelb, ein Apfelgrün“ plädiert, freut sich der Geschäftsmann über den Wunsch des Ehepaars, das Sofa grau beziehen zu lassen – denn er hat eine Kollektion von 28 Grautönen: mausgrau, staubgrau, aschgrau, steingrau, bleigrau, zementgrau…
Ob diese graue Vielfalt gegen die Depression helfen wird? Zumindest zeigt sie: Komposita finden wir nicht nur in der Sprache der Bürokratie. Sie können uns auch zu kuriosen Wortschöpfungen inspirieren. Probiert es selbst aus: Kreiert bei eurem nächsten Spaziergang im Park Komposita für eure Umgebung. Ich jedenfalls gehe jetzt erst einmal das sonnengelbe Laub bewundern, das sich in den kristallklaren Teichen im Volkspark Rehberge spiegelt. Okay, die Teiche sind eigentlich schlammbraun – aber schlammbraun ist auch ein Kompositum.
Deutsch lernen mit Vielfalt
Ich bin sicher: Im Volkspark Rehberge, der ja selbst aus zwei Komposita besteht, werde ich auf Kombinationsmöglichkeiten aller Art treffen – manchmal treffe ich dort sogar einen rauflustigen (Verb + Adjektiv) Waschbären (Verb + Substativ), der die moosgrünen (Substantiv + Adjektiv) Mülleimer (Substantiv + Substantiv) inspiziert – besser, als wenn er die blassblauen (Adjektiv + Eier) des Rotkehlchens (Adjektiv + Substantiv) stiehlt…
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