Zwei Weihnachtstexte für den Deutschunterricht: ein Original und seine Parodie. Kann man beide mögen?
Vorfreude in kindlicher Weihnachtswunderwelt
„Morgen, Kinder, wird’s was geben“ – als kleiner Junge habe ich dieses Weihnachtslied geliebt. Heute höre ich es mit Deutschkursen ab B2-Niveau und werde jedes Mal sentimental. Ja, die Vorfreude auf den Heiligen Abend war das Schönste in der kindlichen Weihnachtswunderwelt. Spätestens am ersten Dezember sang ich: „Einmal werden wir noch wach, heißa, dann ist Weihnachtstag!“ – obwohl wir in Wirklichkeit noch 23 Mal wach würden, bevor Weihnachten war.
Eigentlich will ich im Deutschunterricht nicht sentimental werden. Habe ich das Lied mit meinen Kursen zu Ende gehört, doziere ich deshalb sehr akademisch über seinen kulturhistorischen Hintergrund.
Ein Lied für Wohlhabende
Mit „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ feiert das Bürgertum des 19. Jahrhunderts weniger die Geburt Jesu Christi als sich selbst. Die Weihnachtsfreuden, um die es geht, sind nicht religiöser, sondern materieller Natur. In dem Lied erinnern sich Kinder daran, was ihr letztes Weihnachtsfest besonders gemacht hat. Konkret heißt das: Sie erinnern sich an die Geschenke, die sie bekommen haben. Zwei Strophen lang machen sie Inventur. Es geht um Kleider und Puppenherde für die Mädchen und Jagdspielzeug für die Jungen – Dinge, mit denen wohlhabende Familien ihre Kinder auf ihre späteren sozialen Rollen vorbereiteten. Der Dank für die Geschenke gilt den Eltern: „Oh, gewiss, wer sich nicht ehrt, / ist der ganzen Lust nicht wert!“ Kein Christkind, keine Engel, dafür Eltern, die man ehren muss. Moral statt Fiktion.
„Weihnachtslied, chemisch gereinigt“
1927 schrieb der Schriftsteller Erich Kästner eine großartige Parodie auf das Lied: „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“. Die Grundidee des Originaltextes nimmt er ernst: Das Wichtigste an Weihnachten sind Waren. Die Kinder, die Kästners Parodie adressiert, gehören aber nicht zum Bürgertum. Sie sind von jedem Reichtum ausgeschlossen – und damit auch von dem, was Weihnachten im Kapitalismus ausmacht: „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben, / Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.“
Nun könnte man erwarten, dass es warmherzig weitergeht. Ist Weihnachten nicht das Fest der Liebe? Sollten wir vielleicht ein Benefizkonzert veranstalten, bei dem reiche Leute etwas für die Armen spenden und sich dabei sehr generös fühlen? Nicht im chemisch gereinigten Weihnachtslied! Der Ton ist so zynisch wie die Wirklichkeit: Wie in „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ werden exklusive materielle Freuden beschrieben – immer aber mit dem Hinweis, dass die Kinder nicht an ihnen teilhaben werden. Ihnen wird erklärt, dass das nicht so schlimm sei: dass sie zufrieden sein sollten, am Leben zu sein, dass Reiche Armut gern hätten, dass sie vernünftig sein und teure Dinge gar nicht verlangen sollten, dass sie Geduld haben und aus ihrer Misere für’s Leben lernen sollten – ohne, dass klar würde, was genau sie da lernen sollen. Eine ironische Aufforderung zur Passivität.
Trotz allem: Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch!
Mit meinen Deutschkursen ab B2-Niveau lese ich immer beides: „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ und „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“. Kann man beides mögen – das sentimentale Kinderlied und seine sozialkritische Parodie? Eigentlich nicht. Trotzdem pfeife ich in der Adventszeit oft „Morgen, Kinder, wird’s was geben“. Manchmal denke ich dann an die kindliche Vorfreude auf das große Fest – und manchmal daran, dass diese Vorfreude ein Privileg ist, das keines sein dürfte.
Ziemlich anstrengend, dieser Widerspruch. Deshalb freue ich mich nach den Unterrichtsstunden zu den beiden Texten auf meine A1-Kurse. Dort lernen wir: „Frohe Weihachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!“ Das wünschen wir vom All-on-Board-Team auch euch.
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