Liebe Leser,
Liebe Leserinnen,
Liebe Leserinnen und Leser,
Liebe Leser/innen,
Liebe LeserInnen
Liebe Leser*innen,
Liebe Leser_innen,
Liebe Leser:innen,
Liebe Lesende!
Sicher habt ihr an den verschiedenen Anreden schon erkannt, worum es geht: Ums Gendern. Oder eben ums Nicht-Gendern, wie in der ersten Option: Liebe Leser. Natürlich sind mit den „lieben Lesern“ auch die Leserinnen gemeint. Oder ist das gar nicht so natürlich? Als die Schweiz 1971 das Wahlrecht für Frauen einführte, wurde auch der Verfassungstext geändert, um klarzustellen, dass es darin nicht nur um Schweizer Männer geht. Im Grundgesetz, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, ist eine „Bundeskanzlerin“ auch nach 16 Jahren Angela Merkel nicht vorgesehen – obwohl die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Artikel 3 garantiert wird. Ist diese Garantie genug? Muss man Gesetzestexte wirklich gendern – und damit noch komplizierter machen?
Eine linguistische Frage – und eine politische
Eine kontroverse Frage. Die ZEIT bekam jedenfalls wütende Leserbriefen, nachdem sie 2021 einen Appell mit dem Titel „Gendert das Grundgesetz“ veröffentlicht hatte. 2020 wurde ein Gesetzesentwurf im generischen Femininum verfasst – und musste umgeschrieben werden. Die Kritik: Wenn nur die weibliche Form benutzt wird, gilt das Gesetz nur für Frauen. Nun steht im Text das generische Maskulinum und gilt für alle – auch für die, die nicht explizit genannt werden, also alle, die keine Männer sind.
Gendern oder nicht? Das ist keine rein linguistische Frage, sondern auch eine politische. Viele Konservative hassen das Gendersternchen („Leser*innen“), das geschlechtliche Identitäten zwischen oder jenseits von Mann und Frau repräsentiert. CDU-Vorsitzender Friedrich Merz findet: In öffentlich finanzierten Medien hat es nichts zu suchen. Journalist*innen, pardon: Journalisten (oder, in Gottes Namen, Journalistinnen und Journalisten) sollten sich an die „allgemein anerkannten Regeln in der Nutzung der deutschen Sprache halten“, erklärte er vor ein paar Wochen auf dem CDU-Parteitag in Hannover.
Sternchen und Partizipien – ein Skandal?
A propos Hannover: Was die „allgemein anerkannten Regeln in der Nutzung der deutschen Sprache“ sieht die dortige Stadtverwaltung anders als Friedrich Merz. 2019 hat sie ein Papier entwickelt, das ihren Mitarbeitenden eine genderneutrale Sprache sie empfiehlt, wie zum Beispiel Partizipialformen sie ermöglichen: „Mitarbeitende“ statt „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“. Auch das Gendersternchen soll für mehr Gerechtigkeit sorgen.
Ein Skandal, findet der Verein Deutsche Sprache. „Schluss mit dem Gender-Unfug“, forderte er in einer Petition, die viele prominente Unterstützer (und nicht ganz so viele prominente Unterstützerinnen) fand. Wahrscheinlich haben viele von ihnen ein ästhetisches Problem mit dem Gendern – jedenfalls ist in der Petition von „lächerlichen Sprachgebilden“ die Rede, die Frauen am Ende doch nicht helfen würden.
Gender – im Deutschen immer präsent
Ob die weibliche Endung Frauen hilft oder nicht – das generische Maskulinum führt zu ihrer mentalen Unterrepräsentation. Lesen wir „Ärzte“, stellen wir uns Männer in weißen Kitteln vor. Bei „Ärztinnen und Ärzten“ entsteht ein Bild, in dem auch Frauen präsent sind. Der Schriftsteller Navid Kermani bedauert in einem ZEIT-Artikel, dass er auf Deutsch nicht über Personen schreiben kann, ohne indirekt ihr Geschlecht zum Thema zu machen. Im Plural kann das Partizip für Gender-Neutralität sorgen: „Liebe Lesende“ lässt offen, ob ihr männlich, weiblich oder divers seid. Spreche ich dich jedoch nicht als Teil einer Gruppe an, sondern ganz persönlich, dann, liebe*r Leser*in (oder sollte ich schreiben: liebe Leserin, lieber Leser?), dann nützt auch das Partizip nichts.
Wenn es ums Gendern geht, ist also nicht immer klar, was die „allgemein anerkannten Regeln in der Nutzung der deutschen Sprache“ sind. Wie er oder sie präzise, unkompliziert und gerecht spricht, entscheidet am Ende jeder, jede, jede*r (…) individuell.
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